Der Provokative Stil

Dr. E. Noni Höfner
Beitrag zum Handbuch Bildung, Training und Beratung, Hrsg. Meier Gantenbein und Späth, Beltz 2011

1. Geschichte

Versetzen wir uns kurz zurück in den Geist, der in der Psychotherapie Anfang der Sechzigerjahre in den USA vorherrschte: Die Psychoanalyse stand in voller Blüte und jeder Amerikaner, der etwas auf sich hielt und es sich leisten konnte, hatte seinen persönlichen Analytiker, den er mehrmals wöchentlich und oft über viele Jahre aufsuchte, wenn möglich lebenslang. Die Gesprächstherapie hatte sich halbwegs etabliert, die Verhaltenstherapie steckte noch in den Kinderschuhen und wurde in Europa belächelt bis diffamiert, denn, so hieß es, sie erreiche ja nicht den Kern des Problems, sondern betreibe nur Kosmetik an der Oberfläche, sodass das Symptom zwingend an anderer Stelle wieder zum Vorschein kommen werde. Dergleichen Unsinn wurde uns noch im Studium Ende der Sechzigerjahre an der damals rein psychoanalytisch ausgerichteten Münchner Universität ernsthaft verkauft und flammt bis heute gelegentlich auf.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Provokative Therapie eine Chance hatte, das Licht der Welt zu erblicken. Anfang der Sechzigerjahre verlor ein junger Amerikanischer Therapeut namens Frank Farrelly, der  Mitarbeiter in einem Projekt von Carl Rogers war, die Geduld mit einem chronisch schizophrenen Patienten. Er hatte mit ihm über neunzig Stunden lang streng gesprächstherapeutisch gearbeitet und ihm unverdrossen versichert, wie grundsätzlich wertvoll und reich an Potential er sei. Der Klient reagierte ebenso unverdrossen mit Widerstand, war antriebslos und beharrte darauf, dass er keinerlei Fähigkeiten besäße. Farrelly machte in der 91. Stunde unvermittelt einen Schwenk um 180 Grad und begann, der negativen Selbsteinschätzung des Patienten begeistert zuzustimmen. Jawohl, versicherte er ihm, er sei wertlos, nutzlos und hässlich, ein kompletter Versager, zu nichts mehr fähig, eine Zukunftsperspektive sei praktisch nicht vorhanden usw.. Ohne Übergang richtete sich der zusammengesunkene, lethargische Patient auf und fing an, sich zu verteidigen: Er könne sehr wohl dies und jenes, und er zählte seine Fähigkeiten mit einer Energie auf, die er vorher nie gezeigt hatte. Das war die Geburtsstunde der Provokativen Therapie.

Die Provokative Therapie hat in den letzten Jahrzehnten auf der ganzen Welt Anhänger gefunden und viele Anwender haben ihr den eigenen Stempel aufgedrückt. Das ist durchaus erwünscht, da diese Vorgehensweise sehr offen ist und die Persönlichkeit des Anwenders eine wichtige Rolle spielt. Farrelly war in den späten Siebziger und frühen Achtzigerjahren einer der zentralen „Master-Models“ für Grinder und Bandler bei der Entwicklung des NLP, was von diesen – zumindestens in ihren schriftlichen Äußerungen – meistens vornehm verschwiegen wird, sodass NLP-Anwender mir in meinen Fortbildungsseminaren häufig mitteilen, die provokativen Interventionen seien ihnen ja bereits aus dem NLP bekannt. Da werden Ursache und Wirkung vertauscht.

Ich habe Farrelly 1985 kennen gelernt und die Provokative Therapie zum so genannten Provokativen Stil® weiterentwickelt, da ich die Erfahrung gemacht habe, dass der provokative Ansatz nicht nur eine effiziente Therapieform für schwer gestörte Menschen ist, sondern eine Möglichkeit der Kommunikation, die in vielen zwischenmenschlichen Bereichen Anwendung finden kann.

2. Was steckt dahinter?

Die Bedeutung der Emotionen
Die Provokative Therapie bzw. der Provokative Stil sind Kurzzeittherapien und -beratungen. Die Provokative Therapie wird zur kognitiven Verhaltenstherapie gezählt, aber eigentlich handelt es sich um eine emotionale Verhaltenstherapie, denn der Ansatzpunkt ist die emotionale Energie, die in jedem Symptom steckt. Symptome aufrecht zu erhalten kostet Kraft – denken Sie beispielsweise an die Energie, mit der magersüchtige Klienten jedes Gramm ihres Gewichtes kontrollieren. Die Triebfeder, die Symtome am Leben erhält, ist nicht die Ratio, sondern das Gefühl, oder anders ausgedrückt: emotionale Energie. Wenn man einen Menschen beeinflussen will, muss der Antrieb zur Veränderung daher ebenfalls aus den Gefühlen kommen. Durch rationale Einsichten alleine hat sich noch kein Mensch verändert.

Die emotionale Energie zeigt sich zunächst im heftigen Widerstand des Klienten gegen Veränderungen. Seine Symptome sind ihm zwar lästig bis unerträglich, aber gleichzeitig hängt er sehr an seinen bisherigen eingeschliffenen und vertrauten Gefühlen, Denkvorgängen und Verhaltensweisen. Die provokativen Interventionen nutzen diese emotionale Energie und leiten sie um, sodass emotionaler Widerstand gegen die Symptomatik entsteht. Wenn der Berater1 ein geschultes Auge hat, ist die Therapie sehr kurz, denn sie funktioniert zuverlässig vom Kleinkind bis zum Greis, sobald man den richtigen, emotional geladenen „Knopf“ drückt. Man behauptet beispielsweise, dass der Klient sich gar nicht ändern könne, weil er zu alt, zu doof, zu dick, zu blond usw. ist. Im allgemeinen reizt das den Klienten zum Widerspruch, besonders wenn er das gleiche in Ansätzen auch schon gedacht hat. Wenn Sie zu einem Dreijährigen sagen: „Du bist noch zu klein, um dir Jacke selber anzuziehen“, wird er alles dran setzen, Ihnen das Gegenteil zu beweisen. Ein gestandener Mann kann mit der Aussage „schade, aber für eine Verhaltensänderung sind Sie leider nicht intelligent genug!“ in Bewegung gesetzt werden.

Der Provokative Stil wirkt wie eine Depotpille, die ihren Wirkstoff nach und nach ins System abgibt. Die Ratio hinkt dabei dem emotionalen Geschehen stets hinterher, erst kommt die Veränderung im Verhalten und Fühlen, dann folgt im besten Fall Einsicht oder Verstehen. Da der Mensch nach rationalen Erklärungen dürstet, basteln sich die Klienten häufig im Nachhinein irgendeine Erklärung, die nicht unbedingt stimmen muss. Oft führen sie ihr verändertes Verhalten auch gar nicht auf die Interventionen des Beraters zurück, obwohl dieser Zusammenhang von jedem Außenstehenden erkannt werden könnte. Es gehört zu den charakterstärkenden Lernvorgängen des Beratungsberufes, diese fehlenden Streicheleinheiten durch die Klienten ohne Murren zu ertragen.

Nach einer provokativen Beratung ist der Klient fast immer verwirrt, weil sein emotionales „Korsett“ in Aufruhr geraten ist. Das stört nicht und ist sogar beabsichtigt, denn um eine verkrustetes System wieder beweglich zu machen, muss man es erst durcheinanderbringen. Es bringt also nichts, den Klienten direkt nach der Beratung zu fragen, ob er nun wisse, was er tun wolle, weil man darauf keine oder nur eine unbefriedigende Pseudo-Antwort bekommt.

Provokation und Humor als Basis des Provokativen Stils
Wie der Name schon sagt, ist die Provokation – die Herausforderung – ein zentrales Element des Provokativen Stils. Der provokative Berater fordert den Klienten heraus, seine eingefahrenen Denk-, Fühl- und Verhaltensschienen zu verlassen und sich auf neues, ungewohntes Terrain zu wagen. Das funktioniert am besten, wenn man den Klienten dazu bringt, über sich selbst zu lachen. Das entspannt den Klienten, schwächt die emotionale Ladung des Symptoms und schafft so die Grundlage für Veränderungen.

Es ist weitaus schwieriger, über sich selbst zu lachen, als sich über andere lustig zu machen. Den Splitter in den Augen anderer, sprich deren Absurditäten im Denken, Fühlen und Verhalten, sehen wir von außen sofort, aber an den Balken im eigenen Auge sind wir so gewohnt, dass wir ihn nicht mehr wahrnehmen, sondern für organisch gegeben halten.

Im Provokativen Stil wird niemand ausgelacht. Nur wer Humor hat, kann über sich lachen, aber Humor und Lachen sind nicht deckungsgleich. Manches Lachen hat mit Humor rein gar nichts zu tun. Ein Lachen, das den anderen bloßstellt, herabsetzt oder verletzt, ist ein Machtinstrument, das mit negativen Emotionen des Lachers geladen ist und vor allem dazu dient, dem Lacher Überlegenheit und Aggressionsabfuhr zu verschaffen.

Die Wachstumsbremsen und das LKW
Nach meinem ersten Workshop in Provokativer Therapie bei Frank Farrelly im Juni 1985 fühlte ich mich wie vom Lastwagen überfahren. Farrelly hatte in diesem Workshop alle Therapieregeln, die ich bis dahin für unumstößlich gehalten hatte, fröhlich verletzt. Er hatte es gewagt, mit den Klienten kräftig über ihre Probleme zu lachen, anstatt sie mit mitfühlender Miene ob ihres Leides zu bemitleiden, zu beschützen und zu bemuttern. Das war völlig neu, nicht nur für mich, sondern für fast alle Workshopteilnehmer. Wir lachten das ganze Wochenende, und verließen den Workshop höchst verwirrt. Danach wusste ich, dass ich gefunden hatte, wonach ich schon so lange suchte: Ein Verfahren, das den Klienten schnell Entlastung verschafft und ihre Selbstverantwortung in den Bereichen neu belebt, in denen sie sie aufgegeben hatten.

Nicht nur, weil ich mich nach dem Farrelly-Workshop fühlte, als hätte mich ein LKW gerammt, sondern auch, weil die provokativen Interventionen so stark und unerschütterlich sind und schnell Wirkung zeigen wie ein Lastwagen in voller Fahrt, verwende ich als Kurzform für die Vorgehensweise im Provokativen Stil gerne die eingängigen drei Buchstaben LKW.

LKW illustriert die bullige Kraft dieser Methode und steht gleichzeitig für das „Liebevolle Karikieren der Wachstumsbremsen“ des Klienten. Wachstumsbremsen2 hindern einen Menschen daran, seine Möglichkeiten voll auszuschöpfen und sich von lieb gewonnenen, aber selbstschädigenden Vorstellungen der eigenen Persönlichkeit zu verabschieden. Wachstumsbremsen helfen aber fatalerweise auch, Ängste zu reduzieren, weil sie dafür sorgen, dass neue Herausforderungen, Anstrengungen und Unsicherheiten vermieden werden. Da das Ergebnis veränderten Fühlens, Denkens und Verhaltens ungewiss ist, macht Passivität weniger Angst, als Dinge aktiv zu verändern. Die Angstvermeidung ist der Trostpreis, der leider unangenehme Nebenwirkungen in Form von lästigen Symptomen hat. Der Hauptgewinn wäre die Kontrolle über das eigene Leben, die Lust an der Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung und das Vergnügen bei der Bewältigung schwieriger Lebensaufgaben.

Der Fokus auf die Stärken des Klienten
Der wichtigste Aspekt beim „Liebevollen Karikieren der Wachstumsbremsen des Klienten“ (LKW) ist der Begriff „Liebevoll“. Es geht dabei nicht darum, den Klienten zu schonen und vorsichtig in Watte zu packen, in dem Fehlglauben, er sei zerbrechlicher als dünnes Porzellan. „Liebevoll“ meint die grundsätzliche Wertschätzung des Klienten sowie den bedingungslosen Glauben an dessen Fähigkeiten. Das Hauptaugenmerk des provokativen Beraters liegt daher stets auf vorhandenen Kraftquellen und künftigen Möglichkeiten des Klienten, nicht auf Defiziten und vergangenen Traumen. Er konzentriert sich voll und ganz auf die Stärken des Klienten und empfindet Sympathie, Wohlwollen und Zutrauen in dessen Kräfte. Dabei geht er davon aus, dass die meisten Klienten, vor allem solche, die noch selbständig in eine Fachpraxis kommen können, über weit mehr gesunde als kranke Anteile in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten verfügen. Der Klient ist nicht schwach und hilflos und ohne den allwissenden Therapeuten verloren, sondern sondern mündig und stark, und verfügt prinzipiell über ausreichende Möglichkeiten, seine Probleme zu lösen und sein Leben wieder selbständig in die Hand zu nehmen. Nur der Zugang zu seinen Kraftquellen ist ihm derzeit erschwert, weil er gerade emotional und mental feststeckt.

Diese Wertschätzung wird im Provokativen Stil selten bis nie verbal geäußert, sondern der Berater vertraut auf die Macht der Körpersprache. Echtes Wohlwollen versteht jeder Mensch ohne Worte – und es kann nur sehr schwer vorgespielt werden. Durch die nonverbale Unterstützung und das gleichzeitige ungenierte Aussprechen der Stolpersteine, die der Klient gerne unter den Teppich kehrt, übt der Berater auch nicht ansatzweise Druck von außen aus, sondern provoziert beim Klienten heilende Emotionen und damit einen produktiven Innendruck zur Veränderung.

Das Ziel der provokativen Beratung ist das Aufbrechen emotional geladener fixer Ideen3, mit denen sich der Klient schadet, und die Stärkung seiner Eigenverantwortung, sodass er wieder denk-und handlungsfähig wird. Das setzt ihn in die Lage, Entscheidungen zu treffen, die besser für sein Wohlbefinden sind als die bisher praktizierten Notlösungen, und deren Umsetzung zielstrebig zu verfolgen.

3. Ethik, Werte und kritische Betrachtungen

Der Provokative Stil bietet einige Angriffsflächen, denn der provokative Berater hält sich nicht an Vorschriften, nur weil man es „schon immer so gemacht hat“, oder sie sich angeblich bewährt haben und deshalb für unantastbar gehalten werden. Die Kritik kommt dabei im allgemeinen von Menschen, deren Meinung von keinerlei Sachkenntnis bezüglich der provokativen Grundlagen getrübt ist. Einer der am häufigsten gebrachten Einwände ist der Vorwurf der Oberflächlichkeit, weil Lachen und ernsthafte Beratung nicht zusammengingen. Einen weiteren Einwand höre ich in den über zwanzig Jahren, in denen ich Fachleute im Provokativen Stil fortbilde, in jedem Seminar: Die Teilnehmer fürchten, das Lachen über die Stolpersteine ihrer Klienten würde diese verletzen, da sie es als Auslachen missverstehen würden. Es würde zum Therapieabbruch führen und die Klienten in noch tieferes Unglück stürzen. Beide Einwände sind es wert, genauer betrachtet zu werden.

 Humor in der Therapie
Im Provokativen Stil spielt Humor eine zentrale Rolle. Es wird viel gelacht, aber die wertschätzende, wohlwollende Haltung des Therapeuten ist die unerlässliche Basis für das Gelächter. Bildlich gesprochen nimmt der Berater den Klienten in den Arm und nur seine selbstschädigenden Stolpersteine auf den Arm. Der Provokative Stil ist keine Waffe, sondern ein Gleitmitttel für rostig gewordene Kommunikation und ein Heilmittel im Rahmen von Psychotherapie und Beratung.

Dieser konstruktive Humor hilft sowohl den Klienten als auch den Therapeuten und Beratern, den eigenen Standpunkt zu relativieren und sich nicht für den Nabel der Welt zu halten4. Er ist die Voraussetzung dafür, dass der Klient die Fallen und Stolpersteine, die er sich in den Weg legt, mit einer gesunden Distanz betrachten kann. Humor schützt vor blinden Flecken, Rechthaberei, fixen Ideen und ideologischen Kämpfen.

Der Einsatz von Humor war in der Psychotherapie lange verboten oder galt mindestens als unseriöser Kunstfehler. Die Therapeuten waren sich weitgehend einig, dass der Klient gelitten hat und aktuell leidet und durch weiteres Leiden, Heulen und Zähneklappern zur Gesundheit geführt werden muss. Die Absurdität eines solchen Ansatzes könnte bereits ein Anlass für Heiterkeit sein, wenn er nicht so gravierende Folgen hätte. Ich bin in der psychoanalytischen Literatur einmal sinngemäß auf folgenden Satz gestoßen: „Wenn ein Klient in der Therapiestunde lacht, ist das eine neurotische Regression und sofort zu unterbinden!“

Lachen und Weinen sind essentielle Bestandteile des menschlichen Gefühlshaushaltes und beides sollte in der Beratung seinen Platz haben. Ein Berater oder Therapeut darf keine Angst vor Tränen haben, aber er sollte auch nicht beglückt glauben, er sei nun endlich auf die „wahren Gefühle“ gestoßen, wenn der Klient in Tränen ausbricht.

Erst in den letzen Jahren hat sich die Forschung langsam und zaghaft an die Untersuchung des Humors in der Therapie gewagt. Humor als Kernelement einer Therapie- oder Beratungsform ist aber immer noch sehr ungewöhnlich. Das ist eigentlich überraschend, denn Humor ist per Definitionem5 eine heilende Kraft. Es bestehen jedoch viele Vorurteile und der abwertende Begriff von der „Spaßgesellschaft“ wird ins Spiel gebracht, um den Einsatz von Humor in seine Schranken zu weisen und auf ein unwichtiges Beiwerk in der Beratung zu reduzieren. Sogenannte Lachgruppen, die sich in vielen Städten gebildet haben, mit dem Ziel, regelmäßig gemeinsam zu lachen, werden süffisant belächelt. Es gibt jedoch schlechtere Gründe, sich zu treffen, als wieder Lachen zu lernen, was viele Menschen im Lauf ihres Erwachsenwerdens verlernt haben. Das andere Extrem, bestimmte Selbsterfahrungsgruppen, in denen darauf gelauert wird, dass endlich einer die Nerven verliert und von Tränen geschüttelt wird, sind nach meiner Einschätzung für die Mobilisierung konstruktiver Emotionen weitaus unergiebiger.

Die Persönlichkeit des Anwenders
Die konstruktive Anwendung des Provokativen Stils verlangt – mehr noch als in vielen anderen Therapieformen – neben der wohlwollenden Haltung ohne Wertungen – ein hohes Maß an Integrität und Selbstreflexion vom Anwender. Der unreflektierte Einsatz von provokativen „Werkzeugen“ führt im besten Fall nur zum Therapieabbruch, im schlimmsten zu ernsthaften Verletzungen des Klienten.

Die Sorge, man könne den Klienten verletzen, ist nur dann berechtigt, wenn der Berater eine eigene Agenda hat und den Provokative Stil einsetzt, um sich selbst Entlastung zu verschaffen. Das ist zwar nachvollziehbar in Anbetracht eines Klienten, der einem seit Wochen den Nerv tötet und dem man eine positive Veränderung nur noch mit Mühe oder gar nicht mehr zutraut, aber dennoch nicht gerechtfertigt. Mancher Berater denkt vielleicht bei oberflächlicher Betrachtung der provokativen Vorgehensweise beglückt, dass er nun endlich die Erlaubnis hätte, einen solchen Klienten fachmännisch zu zerlegen und in die Pfanne zu hauen, aber ich rate schon aus Selbstschutz ausdrücklich davon ab.

Wenn der Berater einem Klienten positive Veränderungen nicht zutraut oder wenn er ihn nicht leiden kann, ist ihm der Humor vollständig abhanden gekommen. Der Berater muss sich deshalb immer auf´s Neue fragen, ob seine wertfreie Wertschätzung noch gegeben ist. Ohne die Wertschätzung und das Zutrauen in den Klienten werden die Interventionen bösartig, ätzend und niederschmetternd, der Klient wird verletzt und demotiviert.

Provokation als Manipulation
Der Provokative Stil dient also weder zur Aggressionsabfuhr noch zur eigennützigen Manipulation. Deshalb eignet er sich auch nicht, wenn ich etwas ganz Bestimmtes bei einem anderen Menschen erreichen will oder muss. Chefs, Ehepartner, Eltern sollten den Provokativen Stil deshalb nur einsetzen, wenn es ihnen nichts ausmacht, falls sich das Opfer ihrer Provokationen entscheidet, sich nicht zu ändern. Die Entscheidung zur Veränderung liegt nie beim Provokateur, sondern immer beim Klienten, und wenn er lieber bleiben will, wie er ist, sei auch das willkommen. Ein Analytiker-Witz illustriert das vortrefflich: Sagt ein Freund zum anderen: „Wie geht es Dir jetzt, nach sieben Jahren Analyse? Machst Du immer noch ins Bett?“ – „Ja“, antwortet der andere, „aber jetzt macht es mir Spaß!“.

Ethische Grundsätze
Da es auch gerade hier immer wieder zu Missverständnissen kommt ist es wichtig zu betonen, dass im Provokativen Stil nicht ziellos alles auf´s Korn genommen wird. Es gibt viele Glaubenssätze und Werte des Klienten, die nicht zur Disposition stehen, weil sie mit dem Problem nichts zu tun haben und der Klient sich nicht schädigt, wen er ihnen anhängt. Es steht dem Berater nicht zu, sich über religiöse Überzeugungen, kulturelle Unterschiede und dergleichen lustig zu machen, mögen sie ihm auch noch so absurd erscheinen. Nur die Wachstumsbremsen – sprich Stolpersteine – des Klienten werden karikiert und ad absurdum geführt, nicht der Klient als Ganzes. Die grundsätzliche Wertschätzung seiner Person wird nie in Frage gestellt, das Zutrauen in seine Stärke und seine Veränderungsfähigkeit schwingt als Grundmelodie immer mit.

4.  Methodische Ansätze: Einige Werkzeuge des Provokativen Stils

Die Provokation des Widerstandes
Der Provokative Stil nutzt den Widerspruchsgeist und lenkt ihn gezielt gegen die eigene Selbstschädigung. Dabei sind die Methoden gewöhnungsbedürftig aber effizient, der Ansatz einleuchtend aber ungewöhnlich.

Der Widerspruchsgeist ist Bestandteil der menschlichen Natur. Jede Mutter kennt die folgende Situation: Sie sagt zum kleinen Michael: „Vertragt euch jetzt endlich!“ und der kleine Michael zieht schnell noch seinem jüngeren Bruder einen Bauklotz über den Schädel, bevor er sich schmollend zurückzieht. Er kann der Ermahnung unmöglich gleich Folge leisten, sondern muss erst noch beweisen, dass er tut was er will.

Der menschliche Widerspruchsgeist ist eine der wesentlichen Triebfedern dafür, dass in der Geschichte der Menschheit Veränderungen und Entwicklungen stattgefunden haben und weiterhin stattfinden. Andernfalls säßen wir noch auf den Bäumen. In meiner Herkunftsfamilie galt der Leitspruch: „Das glaube ich noch lange nicht!“ Er wurde stets eingesetzt, wenn unbewiesene Behauptungen in den Raum gestellt wurden, z.B. angebliche neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder einfach Aussagen im Sinne von „das tut man nicht!“ Auch Kopernikus und Galilei haben behauptet „ich glaube noch lange nicht, dass die Erde eine Scheibe und der Mittelpunkt des Weltalls ist, auch wenn das seit ewigen Zeiten allgemein geglaubt wird!“

Unterstellungen, Behauptungen und Begeisterung für das Symptom
Eine Möglichkeit, den Widerspruchsgeist zu reizen, sind Unterstellungen und Behauptungen. Provokative Unterstellungen bewirken sehr viel schnellere und emotional geladenere Reaktionen beim Klienten als Fragen. Auf diese Weise erfährt der Berater aus der Reaktion des Klienten eine Menge über diesen, ohne es abfragen zu müssen. Das nenne ich Aktivdiagnose, im Gegensatz zur Passivdiagnose, die Fakten abfragt und dem Klienten viel mehr Rückzugsmöglichkeiten bietet.

Die Voraussetzung für möglichst treffende Unterstellungen sind eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine scharfe Wahrnehmung des „Gesamtkunstwerkes Klient“, d.h. der verbalen und nonverbalen Signale, die der Klient in reichem Maße zur Verfügung stellt. Diese Signale erlauben Rückschlüsse auf die Ängste und fixen Ideen – auch Glaubenssätze genannt – des Klienten.

Der provokative Berater kitzelt mit seinen Unterstellungen gezielt den Widerstand des Klienten gegen die eigenen Stolpersteine. Er behauptet zum Beispiel, es sei ein Faktum, dass der Klient das eigene Leben keinesfalls selbst wieder in die Hand nehmen könne. Das habe er ja bereits zur Genüge bewiesen, und es sei auch gar nicht schlimm! Und dann zählt er dem Klienten alle Vorteile des selbstschädigenden Verhaltens auf und fügt noch ein paar weitere hinzu, an die der Klient noch gar nicht gedacht hat. Die Nachteile – wie z.B. ständige Kopfschmerzen und andere lästige Symptome – tut er als nebensächlich ab, denn sie wiegen ja die Vorteile keinesfalls auf. Er begeistert sich regelrecht für die Symptomatik. Der Berater gibt dem Klienten also hinsichtlich seines selbstschädigenden Denkens, Fühlens und Verhaltens mehr Recht, als diesem lieb ist, und rät dazu, es unbedingt beizubehalten und auszubauen, weil es so viele Vorteile bringt, während er jegliche Veränderung für zu gefährlich und zu anstrengend oder für ganz unmöglich erklärt.

Da der Berater sich mit seinen Aussagen auf die Seite des Klienten schlägt, richtet sich der emotionale Widerstand des Klienten gegen seine eigenen Stolpersteine, die einer Weiterentwicklung im Wege stehen, und nicht gegen den Berater, denn jemand, der einem beipflichtet, kann man nur schwer widersprechen. Das kontraproduktive Denken, Fühlen und Verhalten kann nicht mehr ungebrochen beibehalten werden und neue Gefühle, Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen bekommen eine Chance. Das führt zu wesentlich nachhaltigeren Veränderungen als es das beste Zureden vermöchte.

Pauschalierungen oder: Rollentausch zwischen Berater und Klient
Extreme Aussagen provozieren immer Widerstand. Der emotionale Widerstand des Klienten wird daher um so mehr mobilisiert, je hemmungsloser der Berater übertreibt. Er hält dem Klienten einen Zerrspiegel in Hinblick auf dessen Charakter, sein Verhalten und seine Beweggründe vor die Nase, in dem der Klient wie in einem Spiegelkabinett auf dem Rummelplatz aussieht. Wenn die karikierten Unterstellungen Treffer sind, weil sie einen wahren Kern haben, fühlt sich der Klient herausgefordert. Er kann sie in der dargebotenen überzeichneten Form einfach nicht so stehen lassen. Die Karikatur der selbstschädigenden Glaubenssätze des Klienten muss so stark übertrieben sein, dass auch der Klient die Absurdität erleben und darüber lachen kann. Manchmal staunt man als Berater allerdings, wie lange einem ein Klient zustimmt, bevor er anfängt zu lachen und zu widersprechen.

Der provokative Berater schreckt auch nicht vor Verallgemeinerungen und Stereotypisierungen zurück, sondern nutzt hier ebenfalls die segensreichen Wirkungen des Widerspruchsgeistes. Je pauschaler der Berater sich äußert, um so mehr wird der Klient gezwungen, zu differenzieren und zu sortieren. Damit wird die Rolle von Berater und Klient vertauscht, denn üblicherweise pauschaliert und generalisiert der Klient und der Berater sortiert und differenziert.

Das ist sehr hilfreich, denn die selbstschädigenden Glaubenssätze der Klienten sind in aller Regel sehr generalisierend und beeinflussen ihr Verhalten auf fatale Weise. Wenn eine Klientin beispielsweise fest überzeugt ist, dass alle Männer Schweine sind, wird sie sich dieser verhassten Spezies in ganz bestimmter, feindseliger Weise nähern. Da ihr Gegenüber auf diese Feindseligkeit ebenfalls nicht sehr freundlich reagiert, wird sie ihr Vorurteil laufend bestätigt bekommen. Wenn nun der Berater im Brustton der Überzeugung sagt, sie habe völlig Recht und noch nie habe es auf diesem Planeten einen anständigen Mann gegeben, geht sie automatisch in den geistigen „Suchmodus“ und behauptet, sie kenne sehr wohl einen anständigen Mann, nämlich ihren früheren Musiklehrer. Damit stehen ihr künftig zwei Kriterien für die Klassifizierung von Männern zur Verfügung, was wiederum ihr Verhalten ändern wird. Da es ihre eigene Idee war, wird die Veränderung in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten stabiler sein, als wenn sie ihr von jemand anderem schmackhaft gemacht werden musste.

Idiotische Ratschläge
Die gängiste Form der Falle für den Berater ist die Forderung des Klienten: „Sagen Sie mir bitte, was ich tun soll!“ Wenn man dieser Forderung Folge leistet, und geradlinige Ratschläge gibt, gerät man meistens ins Abwehrfeuer des Klienten, der jeglichen Ratschlag genüsslich zerlegt, für untauglich erklärt und dem Berater beweist, wie genau dieser Rat für ihn, den Klienten, nicht funktioniert.

Der provokative Berater teilt bereitwillig so viel Ratschläge aus, wie der Klient will – oft auch ungefragt und noch mehr als der Klient will. Diese Ratschläge haben nur den Haken, dass sie alle völlig hirnrissig sind. Das zwingt den Klienten dazu, eigene Lösungen zu finden, denn ihm wird deutlich, dass er vom Berater in dieser Richtung nichts erwarten kann. Hier gerät man allerdings manchmal in Verlegenheit, weil der Klient einen völlig idiotischen Vorschlag plötzlich äußerst brauchbar findet. Dann ist weitere Übertreibung angesagt.

Die Authentizität des Beraters
Bei der Übertreibung der fixen Ideen und selbstschädigenden Verhaltensmuster hebt der provokative Berater niemals einen belehrenden Zeigefinger. Der Berater gibt dem Klienten nicht nur mehr Recht, als diesem lieb ist, sondern er benennt und karikiert auch die unausgesprochenen unterschwelligen, emotional geladenen und damit fest betonierten Überzeugungen des Klienten, die einer Veränderung im Wege stehen könnten. Er sagt also ständig Dinge, die er selbst nicht glaubt, von denen er aber annimmt, dass der Klient sie – zumindestens ansatzweise – glaubt oder glauben könnte.

Mit einer solchen Vorgehensweise tun sich gerade erfahrene Berater schwer, denn sie erschüttert ihre Vorstellung von der eigenen Glaubwürdigkeit, Authentizität und Kongruenz. Der provokative Berater ist aber in seiner grundlegenden Wertschätzung dem Klienten gegenüber stets kongruent und authentisch, nur in seinen Äußerungen richtet er sich ganz nach den – vermuteten oder wahrgenommenen – Glaubenssätzen des Klienten. Diese muss er keineswegs teilen, aber durch die übertriebenen und verallgemeinernden Behauptungen, die er dazu aufstellt, werden sie dem Klienten deutlicher sichtbar und bewusst. Er besetzt damit die dunkle, ungesunde Seite des Klienten, der aus Gründen der Ausgewogenheit geradezu gezwungen wird, sich auf die gesunde Seite zu begeben.

Ein Fallbeispiel
Der ungekürzte Beginn eines Gesprächs mit einer Frau, die zu mir in die Beratung kam, zeigt, wie schnell die Klientin aus dem Gleis geworfen wird, wenn ich ihr übertrieben Recht gebe, wie sie über sich lachen kann und wie sie den Wunsch verspürt, meinen Behauptungen zu widersprechen:

Kl: Mein Mann macht mich zur Zeit verrückt.

Th: Wie lange haben Sie den schon am Hals?

Kl: Fünf Jahre

Th: Also eine so genannte Spätehe! Sie haben es sich lange überlegt!

Kl: Die graue Liebe

Th: Wie alt sind Sie?

Kl: Siebenundvierzig

Th: Also, im zarten Alter von zweiundvierzig haben Sie beschlossen, diesen Mann zu heiraten

Kl: Wir sind nicht verheiratet!

Th: (erstaunt) Sie sind nicht mal verheiratet! Das ist doch genial. Da brauchen Sie nur, wie im Orient, dreimal zu sagen „ich verstoße dich!“ und dann ist er weg. Das ist doch ganz einfach!

Kl: Das sage ich zur Zeit nur einmal

Th: Dann ist er gleich weg. Der ist froh, wenn Sie ihn rausschmeißen

Kl: Ich weiß nicht, (nachdenklich) ich glaube, dass er in diese Richtung überlegt, ja …

Th: So! Und Sie wollen ihm zuvorkommen, damit Sie nachher nicht die Verlassene sind. Das machen viele Frauen: Bevor der mir heute Abend sagt „ich gehe!“, sage ich, sobald er zur Tür rein kommt „RAUS!“

Kl: Das Problem ist, es ist sein Haus, also wenn, dann muss ich gehen.

Th: Ah! Das haben Sie nicht gut eingefädelt!

Kl: (lacht) Habe ich nicht!

Th: Sie haben also einen Mann an der Backe, der Ihnen den Nerv tötet.

Kl: Ich war jetzt drei Wochen in Sri Lanka, ein Urlaub ohne ihn …

Th: Ich sehe, wie Ihre Augen leuchten.

(Beide lachen)

Kl: …mit einer Freundin, da habe ich eine Ayurveda-Kur gemacht, und es ist eigentlich der Zeitraum, in dem wir, mein Mann und ich, sonst immer gemeinsam den Urlaub verbringen. Es ist auch die einzige Zeit, in der wir gemeinsam frei haben im Jahr und ich habe dieses Jahr beschlossen, diese Kur ist wichtiger für mich.

Th: Aha! Und Sie haben ihm erklärt, „weißt Du, Heinrich, bevor ich mich mit Dir drei Wochen rumärgere, fahre ich lieber mit meiner Freundin Ilse zum Ayurveda, denn da habe ich wirklich Spaß!“ Irgend sowas Aufbauendes.

Kl: Das habe ich vielleicht, ja. Ich habe es höflicher gesagt. Ich habe gesagt, ich brauche das, ich mache das …

Th: Ja, und dich brauche ich nicht, genau!

Kl: Das interpretiert er, das habe ich nicht gesagt.

Th: Natürlich nicht. Aber Sie haben es gedacht.

Kl: Nein, ich habe das nicht gedacht, ich habe abgewogen.

(Beide lachen)

Th: (bewundernd) Sie sind offensichtlich in der Lage, sich raus zu winden. Sie haben es nicht gesagt, Sie haben es zwar gedacht, aber höflich ausgedrückt und ihm eigentlich gesagt: „Also, mit dir Urlaub zu machen ist absolut Scheiße, ich fahr lieber mit einer Freundin und das ist mir wichtiger als Du.“ Und das hat er genau so verstanden, aber Sie sind fein raus, denn Sie haben das derartig verpackt, dass er jetzt das Karnickel ist. Sie können jetzt sagen (empört) „Wie kommst Du auf so eine Idee!! Nie im Leben habe ich sowas beabsichtigt!“

Kl: (nachdenklich) Ja.

Th: (begeistert) Klasse! Clever eingefädelt!

Kl: So wie Sie das interpretieren, ist mir das neu.

Th: Aber jedenfalls hat er´s kapiert und sich dann überlegt, wenn ich ihr so unwichtig bin, dann überlege ich mir, wie wichtig ist mir die X. eigentlich.

Kl: Ja …

Th: Und dann stellt er plötzlich fest, sie ist mir gar nicht so wichtig wie ich dachte. (jubelnd) Überraschung!!!

Kl: Also, er gibt mir zumindestens momentan das Gefühl, dass ich nicht wichtig bin für ihn.

Th: (empört) Das finde ich unverschämt! Ich finde, wenn überhaupt jemand dieses Gefühl geben darf, dass jemand unwichtig ist, dann Sie ihm!

(Beide lachen).

Das Gespräch drehte sich dann um die immer kürzere Halbwertzeit, die Männer im Leben der Klientin hatten (sie hatte einen jetzt zwanzigjährigen Sohn aus einer früheren Beziehung, die zehn Jahre gedauert hatte) und über ihre nie versiegende Hoffnung, den jeweiligen Mann an ihrer Seite zu verändern, bis er hundertprozentig ihren Vorstellungen entsprach. Die Klientin wechselte dabei immer wieder ihre Gesichtsfarbe, was ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass sie emotional beteiligt war. Nach dem Gespräch sagte sie: „Ihre Denkmodelle, die kommen so schnell, dass ich schwer damit beschäftigt war, dem zu folgen, sie zu kapieren. Verwirrung, Lachen, ich habe ganz oft das Gefühl gehabt, ich möchte mich erklären, ich möchte sagen, dass es überhaupt nicht so ist, ich bin überhaupt ganz anders und ich will es eigentlich ganz anders. Bei mir rotiert es jetzt.“

5. Essenz und Bedeutung

Das Ziel der provokativen Interventionen ist nicht eine vom Fachmann gefundene, endgültige Problemlösung, sondern das Auffinden und Beseitigen von Stolpersteinen, die dem Klienten ermöglichen, seine eigene, auf ihn zugeschnittene Lösung zu finden. Sobald der Klient emotional überzeugt ist, dass die Lösung für ihn passt, hat sie nachhaltig Bestand.

Nicht eine maßgeschneiderte Lösung steht also im Mittelpunkt, sondern der Prozess im Hier-und Jetzt der Beratungsstunde. Im Provokativen Stil werden nur wenige Fragen gestellt (z.B. nach dem Familienstand, der Kinderzahl usw.), und auch diese entwickeln sich aus dem Prozess der Beratung und werden nicht vorab abgehakt. Die Unzahl an Unterstellungen, die der Berater stattdessen von sich gibt, ergeben sich aus seiner Einschätzung des Klienten, und aus dessen Reaktion erfährt er wieder eine Menge über ihn. Die Unterstellungen sind äußerst dynamisch, sie können sich ändern, sobald ein neuer Aspekt auftaucht. Das gestaltet den Beratungsprozess auch für den Berater gelegentlich etwas verwirrend, denn er kann nicht geradlinig von A nach B gehen, sondern muss herumhüpfen wie ein Derwisch, der einen Mückenschwarm jagt. Dieses erratische Vorgehen ist Absicht, denn wir folgen den emotionalen Winkelzügen des Klienten, so, wie sie im Beratungsprozess auftauchen, und nicht, wie sie zum Modell im Kopf des Beraters passen.

Dennoch ist der Provokative Stil sehr ziel-und lösungsorientiert, aber Ziel und Lösung sind ausschließlich Sache des Klienten. Der Berater muss weder das Ziel noch die Lösung zwingend erfahren, die sich der Klient als für sich passend aussucht. Auch das fällt gerade geübten Beratern äußerst schwer. Sie sind gewohnt, zunächst viele Fragen zu stellen, das Problem einzukreisen und zusammen mit dem Klienten Ziele zu definieren und dann eine Lösung zu entwickeln, die – häufig an Hand von Hausaufgaben – auf ihre Brauchbarkeit getestet wird.

Der provokative Berater schafft die Voraussetzungen dafür, dass der Klient die Lösung selbst findet. Eine selbst gefundene Lösung ist weitaus stabiler als jeder noch so geniale Einfall eines Dritten. Kein Berater kann so genau wissen wie der Klient6, was für diesen gut ist. Das gilt auch unter der Voraussetzung, dass der Klient überzeugt ist, dass es keine Lösung für sein Problem gibt. Wenn seine emotionale Beteiligung andere Gewichtungen erfährt, erlebt er sein Problem unter neuem Blickwinkel. Dann werden die Lösungen plötzlich sichtbar und das öffnet Türen, die vorher nicht wahrgenommen werden konnten. Dieser neue Blickwinkel ist nicht das Ergebnis eines rationalen Denkvorganges, sondern einer emotionalen Umorientierung. Jede (Neu-) Entscheidung ist daher nur so tragfähig wie ihre emotionale Untermauerung.