Provokative Therapie

E. Noni Höfner
in: G. Stumm (Hg.): Psychotherapie: Schulen und Methoden, Falter Verlag 2011

Anfang der 1960er Jahre platzte dem jungen amerikanischen Psychotherapeuten Frank Farrelly bei der Arbeit mit einem chronisch schizophrenen Patienten der Kragen. Der Patient hatte über Wochen und Monate seinen Opferstatus und seine eigene Unfähigkeit bejammert und Farrelly hatte ihm unterstützend versichert, er sei ein wertvoller Mensch, habe Potenzial und sei bestimmt in der Lage, noch etwas aus seinem Leben zu machen. Doch in der 91. Stunde reichte es ihm und er begann, der negativen Selbsteinschätzung des Patienten begeistert darin beizupflichten, dass der Patient wertlos, nutzlos und hässlich sei, ein kompletter Versager, zu nichts mehr fähig, ohne Zukunftsperspektive usw. Ohne Übergang richtete sich dieser zusammengesunkene, lethargische Patient auf und fing an, sich zu verteidigen: Er könne sehr wohl dies und jenes, und er zählte seine Fähigkeiten mit einer Energie auf, die er vorher nie gezeigt hatte. Das war die Geburtsstunde der Provokativen Therapie (PT) (Farrelly & Brandsma, 1974).

Grundlagen und Praxis
Die Werkzeuge des provokativen Therapeuten sind Humor und Herausforderung. Als prägnante Formel eignet sich für den Provokativen Stil (Höfner, 1995; 2011) das Kürzel LKW, das die bullige Kraft dieser Methode illustriert und gleichzeitig das „Liebevolle Karikieren des Weltbildes des Klienten” meint. Die Stolpersteine im Weltbild des Klienten werden karikiert und ad absurdum geführt, bis auch er diese Absurdität erleben und darüber lachen kann. Das Lachen über sich selbst entspannt den Klienten und schwächt die emotionale Ladung des Symptoms oder hebt sie vollständig auf. Gleichzeitig wird der Klient zweifach provoziert: Zum einen gibt der Berater dem Klienten mehr recht, als diesem lieb ist, indem er jegliche Veränderung für zu gefährlich und zu anstrengend oder für ganz unmöglich erklärt. Darüber hinaus benennt und karikiert der Therapeut die unterschwelligen, emotional geladenen Überzeugungen des Klienten, die einer Veränderung im Wege stehen könnten, oder er reizt den Klienten, indem er Dinge in Frage stellt, auf die der Klient stolz ist. Er unterstellt ihm beispielsweise, dass er sich gar nicht ändern kann, weil er zu alt, zu doof, zu dick, zu blond usw. ist. Die provokativen Interventionen stärken den emotionalen Widerstand des Klienten gegen seine Symptomatik (statt gegen den Therapeuten) und beflügeln seinen Willen, etwas zu ändern. Das selbstschädigende Denken, Fühlen und Verhalten kann nicht mehr ungebrochen beibehalten werden und neue Gefühle, Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen bekommen eine Chance.

Der Ansatzpunkt in der Provokativen Therapie ist die emotionale Energie, die in jedem Symptom steckt, z. B. die Energie, mit der magersüchtige Klienten jedes Gramm ihres Gewichtes kontrollieren. Deren Triebfeder ist nicht die Ratio, sondern ein Gefühl. Wenn man einen Menschen beeinflussen will, muss der Antrieb zur Veränderung immer aus den Gefühlen kommen, zumal rationale Einsichten alleine bekanntlich zu kurz greifen.

Die emotionale Energie zeigt sich zunächst im heftigen Widerstand des Klienten gegen Veränderungen. Seine Symptome sind ihm zwar lästig bis unerträglich, aber gleichzeitig hängt er sehr an seinen bisherigen eingeschliffenen und vertrauten Gefühlen, Denkvorgängen und Verhaltensweisen. Die provokativen Interventionen nutzen diese emotionale Energie und leiten sie um, sodass emotionaler Widerstand gegen die Symptomatik entstehen kann. Wenn der Therapeut ein geschultes Auge hat, kann die Therapie bei entsprechender Indikation sehr kurz ausfallen, denn sie funktioniert in vielen Fällen, vom Kleinkind bis zum Greis, sobald man den passenden, emotional geladenen „Knopf drückt”. Sagt man zu einem Vierjährigen: „Du bist noch zu klein, um dir Jacke selber anzuziehen”, wird er alles dran setzen, das Gegenteil zu beweisen. Ein gestandener Mann, der sich offensichtlich für sehr klug hält, kann mit der Aussage „schade, aber für eine Verhaltensänderung sind Sie leider nicht intelligent genug!” in Bewegung gesetzt werden.

Das Hauptaugenmerk des provokativen Therapeuten liegt stets auf vorhandenen Kraftquellen und künftigen Möglichkeiten des Klienten, nicht auf Defiziten und vergangenen Traumen. Er konzentriert sich auf die Stärken des Klienten und empfindet Sympathie, Wohlwollen und Zutrauen in dessen Kräfte. Dabei geht er davon aus, dass die meisten Klienten, vor allem solche, die noch selbstständig in eine Fachpraxis kommen können, über weit mehr gesunde als kranke Anteile in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten verfügen. Außerdem ist er überzeugt, dass Klienten keineswegs so zerbrechlich sind, wie sie selbst (und auch viele Therapeuten) glauben, sondern mündig und stark, und dass sie prinzipiell über ausreichende Möglichkeiten verfügen, um ihre Probleme zu lösen. Da sie derzeit emotional und mental feststecken, ist ihnen aber der Zugang zu ihren Kraftquellen erschwert.

Diese positiven Aspekte äußert der provokative Therapeut aber selten verbal, sondern vertraut auf die Macht der Körpersprache. Echtes Wohlwollen versteht jeder Mensch ohne Worte – und es kann nur sehr schwer vorgespielt werden. Durch die nonverbale Unterstützung und das gleichzeitige ungenierte Aussprechen der Stolpersteine, die der Klient gerne unter den Teppich kehrt, übt der Berater auch nicht ansatzweise Druck von außen aus, sondern provoziert beim Klienten heilende Emotionen und damit einen produktiven Innendruck zur Veränderung.

Das Ziel der provokativen Vorgehensweise ist nicht eine vom Fachmann gefundene, endgültige Problemlösung, sondern das Auffinden und Beseitigen von Stolpersteinen, die dem Klienten ermöglichen, seine eigene, auf ihn zugeschnittene Lösung zu finden. Sobald der Klient emotional überzeugt ist, dass die Lösung für ihn passt, hat sie nachhaltig Bestand.

Jenseits von Psychotherapie
Seit der Etablierung der PT haben viele Anwender ihr den eigenen Stempel aufgedrückt. So wurde die PT von mir (1995; 2011) zum so genannten Provokativen Stil (ProSt) weiterentwickelt, denn der provokative Ansatz ist nicht nur eine effiziente Therapieform für schwer gestörte Menschen, sondern eine Möglichkeit der Kommunikation, die in vielen zwischenmenschlichen Bereichen Anwendung finden kann, z.B. in Paarbeziehungen (Höfner, 1993) oder im Management. Das wesentlichste Grundelement muss aber bei allen Anwendern vorhanden sein: die wertschätzende, wohlwollende Haltung des Therapeuten. Ohne diese handelt es sich nicht um Provokative Therapie, sondern die Vorgehensweise verkommt zur Aggressionsabfuhr für den Anwender. Die PT ist aber keine Waffe, sondern ein Gleitmittel für rostig gewordene Kommunikation und ein Heilmittel im psychotherapeutischen Rahmen