Ernsthafte Beratung mit Humor? Der Provokative Ansatz

Dr. E. Noni Höfner
(erschienen in “Wirtschaft und Weiterbildung”, Verlag Haufe & Lexware, März 2013)

Vorbemerkung
Der hier beschriebene provokative Ansatz hat sich aus der Provokativen Therapie des Amerikaners Frank Farrelly entwickelte. Er entdeckte diese Therapieform bereits Anfang der Sechzigerjahre als junger Therapeut und Mitarbeiter in einem Projekt von Carl Rogers.

Die provokativen Interventionen haben von Anfang an zu heftigen Kontroversen geführt, da zwar die Ergebnisse erstaunlich, aber die Methoden sehr ungewöhnlich sind. Farrelly hat damit unzählige Patienten aus der geschlossenen Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses, in dem er 17 Jahre lang arbeitete, hinausprovoziert, sodass sie wieder ein unauffälliges, normales Leben führen konnten. Manche Menschen waren zwar beeindruckt von seinen Erfolgen, aber entsetzt über seine „Unverschämtheiten“ und kamen zu dem Schluss, dass nur Frank Farrelly provokativ arbeiten kann, und zwar ausschließlich hinter den dicken Mauern einer psychiatrischen Anstalt. Andere dachten im Gegenteil, dass die Provokative Therapie keine ernsthafte Therapie- und Beratungsform sei, sondern ein nettes Geplänkel, das sich schnell mal nebenbei durch Lesen eines Artikels oder Buches erlernen ließe. Und weil das Provozieren viel Spaß macht und dabei auch viel gelacht wird, hielten manche es auch für eine Art Unterhaltungsprogramm zu Beginn eines Gesprächs, um den Klienten ein bisschen aufzulockern, damit man danach mit der „richtigen Therapie“ beginnen kann.

Die Provokative Therapie ist jedoch eine sehr effiziente und mächtige Therapieform. Wie jedes potente Instrument kann man sie konstruktiv nutzen, aber auch missbrauchen, zum Beispiel um unterschwellige Aggressionen gegen nervige Klienten loswerden. Konstruktive provokative Interventionen erfordern vom Anwender eine verantwortliche und äußerst wertschätzende innere Haltung dem Klienten gegenüber und die Fähigkeit, sich in dessen Welt wohlwollend einzufühlen. Mir ist bewusst, dass die Darstellung einer so komplexen Vorgehensweise in der hier gebotenen Kürze zu weiteren Missverständnissen führen wird. Ich möchte es trotzdem versuchen.

Ich habe Frank Farrelly 1985 auf einem seiner ersten Workshops in Europa kennen gelernt. 1988 gründeten wir das DIP (Deutsches Institut für Provokative Therapie und führten in diesem Rahmen bis 2011, als Frank Farrelly sich aus Krankheitsgründen zurückzog, legendäre Workshops mit ihm durch. Im Lauf der Jahre wurde die Provokative Therapie (PT) um den Provokativen Stil (ProSt)®, die Provokativen SystemArbeit (ProSA)® und das Provokativen Coaching erweitert, da wir die Erfahrung gemacht haben, dass der provokative Ansatz nicht nur eine effiziente Therapieform für schwer gestörte Menschen ist, sondern eine wirksame Kurzzeittherapie und –beratung, die in vielen professionellen Bereichen Anwendung finden kann (Beratung, Coaching, Training, Mediation, Schulbereich u.a.), und sich auch im Privatleben zur Steigerung der Lebensfreude und zur Entschärfung von Konflikten eignet.

Vor einigen Wochen ist Frank Farrelly, der „Vater des Humors in der Therapie“, wie er auch genannt wurde, gestorben. Wir vermissen ihn sehr, aber seine Ideen werden sowohl als Therapieform als auch als wertvolle methodische Erweiterung für professionellen Kommunikatoren[1]  überdauern.

Einige Kennzeichen des provokativen Ansatzes

Der Humor
Wie der Name schon sagt, ist die Provokation – die Herausforderung – ein zentrales Element der provokativen Vorgehensweise. Der provokative Berater fordert den Klienten heraus, seine eingefahrenen Denk-, Fühl- und Verhaltensschienen zu verlassen und sich auf neues, ungewohntes Terrain zu wagen. Das funktioniert am besten, wenn man den Klienten dazu bringt, sich und die eigenen Stolpersteine mit Humor zu nehmen. Die humorvolle Relativierung der eigenen Absurditäten entspannt den Klienten und schafft so die Grundlage für Veränderungen. Lachen über sich selbst ist das schwierigste aber auch zugleich das heilsamste Lachen. Sobald der Klient absurd und lustig findet, wie er sich selbst im Wege steht, ist er befreit. Das öffnet ihm die Tür zu neuem Denken und Verhalten. Es löst starre Fixierungen und Ängste und macht Veränderungen überhaupt erst möglich.

Humor ist jedoch viel mehr als Lachen, und manches Lachen hat mit Humor rein gar nichts zu tun. Ein Lachen, das den anderen bloßstellt, herabsetzt oder verletzt, ist ein Machtinstrument, das vor allem dazu dient, dem Lacher Überlegenheit und Aggressionsabfuhr zu verschaffen. Auf dieser Grundlage werden die provokativen Interventionen bösartig und kontraproduktiv.

Humor war in der Psychotherapie lange verpönt oder galt zumindestens als unseriös. Die Therapeuten waren sich weitgehend einig, dass der Klient gelitten hat und durch weiteres Leiden, Heulen und Zähneklappern zur Gesundheit geführt werden muss. Die Absurdität eines solchen Ansatzes könnte bereits ein Anlass für Heiterkeit sein, wenn er nicht so gravierende Folgen hätte, denn durch die Fokussierung auf Schreckensszenarien und Traumen haben heilende Vorgänge wie Humor und Entspannung einen sehr schweren Stand. Erst in den letzten Jahren hat sich die Forschung langsam und zaghaft an die Untersuchung des Humors in der Therapie gewagt, und inzwischen beginnt er sich in der Therapie allmählich zu etablieren. Humor als Kernelement einer Therapie- oder Beratungsform ist aber immer noch sehr ungewöhnlich.

In PT, ProSt und ProSA spielt der Humor eine tragende Rolle, wobei die wertschätzende, wohlwollende Haltung des Beraters die unerlässliche Basis für das Lachen ist. Niemand wird ausgelacht, denn der Berater lacht nicht über, sondern mit dem Klienten über dessen selbst gebrauten, ganz normalen Wahnsinn – und zwar nur über diesen! Es wird nicht ziellos alles auf´s Korn genommen, und es gibt viele Glaubenssätze und Werte des Klienten, die nicht zur Disposition stehen. Es steht dem Berater nicht zu, sich über religiöse Überzeugungen, kulturelle Unterschiede und dergleichen lustig zu machen, mögen sie ihm auch noch so absurd erscheinen. Nur die Stolpersteine des Klienten werden karikiert und ad absurdum geführt, nicht der Klient als Ganzes.

Humor hilft, nebenbei bemerkt, nicht nur den Klienten, sondern auch den Therapeuten und Beratern, den eigenen Standpunkt zu relativieren und sich nicht für den Nabel der Welt zu halten. Er schützt vor blinden Flecken, Rechthaberei und ideologischen Kämpfen. Provokative Berater sollten auch sich selbst mit Humor betrachten können, und den Schalk im Auge haben, wenn sie provozieren. Dann kommt das Lachen über die Stolpersteine des Klienten auf keinen Fall als Auslachen an, sondern vermitttelt dem Klienten die Zuversicht, dass die Probleme nicht bitter ernst, sondern durchaus lösbar sind. Ich hatte einen Kollegen, der in ernsthafte Schwierigkeiten geriet, weil er seine – ansonsten sehr kreativen – provokativen Unterstellungen mit so todernster Miene vorbrachte, als hätte der Papst Ex Cathedra gesprochen, sodass sie beim Klienten als eherne, unverrückbare Wahrheiten ankamen, die ihn vollständig deprimierten.

Die Wachstumsbremsen
Nach meinem ersten Workshop in Provokativer Therapie bei Frank Farrelly im Juni 1985 war ich total fasziniert,  fühlte ich mich aber gleichzeitig wie von einem LKW überfahren. Farrelly hatte in diesem Workshop alle Therapieregeln, die ich bis dahin für unumstößlich gehalten hatte, fröhlich verletzt. Er hatte es gewagt, mit den Klienten kräftig über ihre Probleme zu lachen, anstatt sie mit mitfühlender Miene ob ihres Leides zu bemitleiden und zu bemuttern. Er hatte ihnen die schamlosesten Beleidigungen an den Kopf geworfen und sie berichteten in der Rückmelderunde ausnahmslos, dass sie  sich noch nie so verstanden gefühlt hätten!

Ich verwende seither als Kurzform für die provokative Vorgehensweise gerne die eingängigen drei Buchstaben LKW, denn sie illustrieren die bullige Kraft dieser Methode und stehen gleichzeitig für das „Liebevolle Karikieren der Wachstumsbremsen“ des Klienten. Die Wachstumsbremsen Fixierung, Faulheit und Feigheit[2] hindern einen Menschen daran, seine Möglichkeiten voll auszuschöpfen, denn dafür muss er sich von lieb gewonnenen, aber schädlichen Vorstellungen der eigenen Persönlichkeit verabschieden, er muss sich anstrengen und Risiken eingehen, denn das Ergebnis veränderten Verhaltens ist ungewiss.

Der wichtigste Aspekt beim LKW ist der Begriff „Liebevoll“. Das Hauptaugenmerk des provokativen Beraters liegt stets auf vorhandenen Kraftquellen und künftigen Möglichkeiten des Klienten, nicht auf Defiziten und vergangenen Traumen. Es geht dabei um die grundsätzliche Wertschätzung des Klienten sowie den bedingungslosen Glauben an dessen Fähigkeit, sich zu verändern. Diese positive Sichtweise wird beim Provozieren so gut wie nie verbal geäußert, sondern der Berater vertraut auf die Macht der Körpersprache. Echtes Wohlwollen versteht jeder Mensch ohne Worte.

Die emotionale Beteiligung
Die PT wird zur kognitiven Verhaltenstherapie gezählt, aber eigentlich handelt es sich um eine emotionale Verhaltenstherapie, denn der Ansatzpunkt ist die emotionale Energie, die jedes Symptom am Leben erhält[3].

Wenn wir Veränderungen im Denken, Fühlen und Verhalten des Klienten bewirken wollen, müssen wir bei dessen Emotionen ansetzen, nicht bei der Ratio. Nicht was der Klient denkt ist wichtig, sondern welche Gefühle mit seinem Denken verbunden sind. Jede wichtige Entscheidung wird zunächst emotional getroffen. Danach schminken wir eine rationale Begründung darüber, weil wir uns dann sicherer und wohler fühlen. Wenn es dem Berater gelingt, die emotionalen Voraussetzungen zu verändern, wird sich zwingend auch das Denken und Verhalten des Klienten verändern.

Emotionen folgen nicht einem klaren, logischen Ablauf, sie haben ihre eigene Logik. Bei der Suche nach den emotionalen Hindernissen, die sich der Klient selbst in den Weg stellt, stoßen wir immer auf Angst. Angst ist ein starkes Gefühl. Sie hindert den Klienten daran, sein Potential zu entfalten und zu nutzen. Angst engt ein, sie ist lähmend und bindet eine Menge emotionaler Energie. Wenn es nun gelingt, die Ängste des Klienten so zu karikieren, zu persiflieren und ad absurdum zu führen, dass der Klient darüber lachen kann, ist der Bann gebrochen, denn Angst und befreites Lachen sind inkompatibel. Damit wird die in den Wachstumsbremsen gespeicherte Energie umgeleitet und steht für neue Aktivitäten zur Verfügung. Die beiden Säulen der provokativen Interventionen sind deshalb der Humor und die Herausforderung.

Wenn der provokative Berater die Wachstumsbremsen des Klienten auf´s Korn nimmt und sie karikiert, sodass der Kl darüber lachen kann (und es ist ratsam, dass der Klient immer ein wenig mehr lacht als der Berater), ist die Gefahr weniger eine zu starke Karikatur als eine zu geringe. Wenn der Berater nur ganz vorsichtig ein bisschen übertreibt, besteht die Gefahr, dass der Klient glaubt, was er da hört, und in seiner Überzeugung gestärkt wird, sein Problem sei furchtbar und nicht lösbar. Manchmal ist es allerdings verblüffend, wie stark man übertreiben muss, bis der Klient die Äußerungen als Übertreibung wahrnimmt und endlich aufhört, einem zuzustimmen.

Werkzeuge des provokativen Ansatzes
Prinzipiell ist die Grundlage des provokativen Ansatzes eine geistige Haltung und keine Sammlung von Methoden, die man standardisiert und unverändert nach Bedarf einsetzen kann. Wer jedoch die Grundhaltung von PT, ProSt und ProSA und die Funktionsprinzipien ihrer Werkzeuge[4] begreift, kann sie für sich abwandeln und auch neue provokative Interventionen erfinden, die zur eigenen Persönlichkeit passen.

Aussagen statt Fragen
Eines der Basiselemente des Provokativen Coachings ist es, den emotionalen Widerstand des Klienten gegen seine Selbstschädigung hervorzurufen. Eine erprobte Möglichkeit, den Widerspruchsgeist zu reizen und den Klienten in Bewegung zu setzen, sind Unterstellungen und Behauptungen, die belegen, warum der Klient sich nicht ändern kann. Aussagen, besonders in Form von Unterstellungen, mobilisieren den Klienten schneller und tiefgreifender als Fragen, denen er sich viel leichter entziehen kann.

Dem Klienten mehr Recht geben, als ihm lieb ist
Klienten suchen Hilfe, weil sie nicht wissen, wie sie eine Änderung schaffen können und überzeugt sind, dass sie alles versucht haben, bisher leider ohne Erfolg. Der provokative Berater aktiviert den Widerstand gegen die Hindernisse des Klienten, indem er den inneren, selbstschädigenden Dialog aufspürt, den der Klient mit sich führt, und diesen in überzeichneter Form an´s Licht zerrt. Der Berater führt zum Beispiel den Charakter des Klienten, seine ungünstige Vergangenheit, seine schlechte genetische Ausstattung, sein fortgeschrittenes Alter, seine fehlende Intelligenz und Kreativität usw. ins Feld, die schlüssig beweisen, dass eine Änderung nicht (mehr) möglich ist. Er gibt dem Klienten damit mehr Recht als diesem lieb ist, und der Klient beginnt sich zu verteidigen und seine Aufmerksamkeit auf die eigenen Stärken zu lenken. Das funktioniert bei Erwachsenen ebenso zuverlässig wie beim Vierjährigen, dem man unterstellt, er sei noch zu klein um sich seine Jacke selbst anzuziehen.

Übertreibungen und Stereotypisierungen
Der emotionale Widerstand des Klienten wird um so kräftiger, je hemmungsloser der Berater übertreibt. Er schreckt dabei auch nicht vor Verallgemeinerungen und Stereotypisierungen zurück („das ist typisch für Frauen / Männer / Manager…“). Je pauschaler der Berater sich äußert, um so heftiger beginnt der Klient zu differenzieren und zu sortieren.

Authentisch in der Grundhaltung, inkongruent im Gesagten
Der Berater glaubt die Behauptungen, die er im Brustton der Überzeugung aufstellt, natürlich nicht selbst, aber er nimmt an, dass der Klient sie glaubt oder glauben könnte. Was der Berater sagt und was er denkt ist daher völlig inkongruent. Das ist für gewiefte Berater ein echtes Problem, denn sie denken zwar gelegentlich solche Unverschämtheiten, aber sie sind überzeugt, es sei nicht nur inkongruent, sie auszusprechen, und dabei so zu tun, als glaube man sie, sondern auch unhöflich, unprofessionell und nicht authentisch. Die unerlässliche Wertschätzung des Klienten zeigt sich aber nicht in verbalen Bekundungen, sondern überwiegend nonverbal, und da ist der provokative Berater absolut authentisch. Da man mit nonverbalen Signalen nur sehr schwer oder gar nicht lügen kann, muss das Zutrauen in den Klienten wirklich vorhanden sein, es lässt sich nicht vorspiegeln. Echte Wertschätzung ist für den Klienten unmissverständlich, sie zeigt sich in lächelnden Augen, sie sind wichtiger als ein lächelnder Mund. Ich bin in über fünfundzwanzig Jahren Anwendung provokativer Interventionen noch nie auf einen Klienten gestoßen, der diese nonverbale Unterstützung nicht verstanden hätte.

Die konstruktive Anwendung provokativer Interventionen verlangt ein hohes Maß an Integrität und Selbstreflexion vom Anwender. Ohne die Wertschätzung und das Zutrauen in den Klienten und dessen Fähigkeiten können die Provokationen bösartig, ätzend und niederschmetternd werden. Der unreflektierte Einsatz von provokativen Werkzeugen führt daher im besten Fall nur zum Gesprächsabbruch, im schlimmsten zur Demotivierung und ernsthaften Verletzung des Klienten.

Den Advioatus Diaboli spielen
Der Berater zählt dem Klienten alle Vorteile des selbstschädigenden Verhaltens auf und fügt noch ein paar weitere hinzu, an die der Klient noch gar nicht gedacht hat[5]. Er begeistert sich regelrecht für die Symptomatik und spielt den Advocatus Diaboli, indem er heftig zur Beibehaltung der Selbstschädigung rät. Die Nachteile – wie z.B. ständige Kopfschmerzen und andere lästige Symptome – tut er als nebensächlich ab, denn sie wiegen ja die Vorteile keinesfalls auf. Das löst Widerstand und eine sehr schnelle und emotional geladene Reaktionen in die „richtige Richtung“ aus, hin zu einer produktiven Veränderung ohne lästige Symptome.

Idiotische Lösungen
Die gängiste Form der Falle für den Berater ist die Forderung des Klienten: „Sagen Sie mir bitte, was ich tun soll!“ Der provokative Berater teilt bereitwillig so viel Ratschläge aus, wie der Klient will – oft auch ungefragt und noch mehr als der Klient verlangt. Diese Ratschläge haben nur den Haken, dass sie alle völlig hirnrissig sind. Das zwingt den Klienten dazu, eigene Lösungen zu finden, denn ihm wird deutlich, dass er vom Berater in dieser Richtung nichts erwarten kann. Hier gerät man allerdings manchmal in Verlegenheit, weil der Klient einen völlig idiotischen Vorschlag plötzlich äußerst brauchbar findet. Dann ist weitere Übertreibung angesagt.

Neutralität hinsichtlich des Ergebnisses
Dem provokativen Berater ist es prinzipiell gleichgültig, ob sich der Klient ändert oder nicht. Er hat keine eigene Agenda, denn das wittert der Klient sofort und leistet Widerstand gegen den Berater anstatt gegen seine eigenen Probleme. Die provokative Vorgehensweise eignet sich daher nicht zur Manipulation. Chefs, Ehepartner, Eltern, die etwas ganz Bestimmtes bei einem anderen Menschen erreichen wollen, sollten provokative Werkzeuge deshalb nur einsetzen, wenn sie damit leben können, dass sich das Opfer ihrer Provokationen entscheidet, sich nicht zu ändern.

Das Ziel provokativer Interventionen
Das Ziel der provokativen Interventionen ist nicht eine vom Fachmann gefundene, wasserdichte Problemlösung, sondern das Auffinden und Beseitigen von Stolpersteinen, die den Klienten daran hindern, seine eigene, auf ihn zugeschnittene Lösung zu finden.

Der provokative Ansatz ist ziel- und lösungsorientiert, aber Ziel und Lösung findet ausschließlich der Klient. Sobald der Klient emotional überzeugt ist[6], dass die Lösung für ihn passt, hat sie nachhaltig Bestand. Eine selbst gefundene Lösung ist weitaus stabiler als jeder noch so geniale Einfall eines Dritten. Kein Berater kann so genau wissen wie der Klient selbst, was für ihn gut ist. Wenn seine emotionale Beteiligung andere Gewichtungen erfährt, erlebt der Klient sein Problem unter neuem Blickwinkel. Dann werden die Lösungen plötzlich sichtbar und das öffnet Türen, die vorher nicht wahrgenommen werden konnten. Dieser neue Blickwinkel ist nicht das Ergebnis eines rationalen Denkvorganges, sondern einer emotionalen Umorientierung. Jede (Neu-) Entscheidung ist daher nur so tragfähig wie ihre emotionale Untermauerung.

Für Berater ist es gewöhnungsbedürftig, dass die Klienten direkt nach einer provokativen Beratung häufig verwirrt sind und nicht sofort wissen, was sie tun sollen. Das ist beabsichtigt, denn um ein starres System wieder beweglich zu machen, muss man es erst durcheinander bringen. Provokative Interventionen wirken wie eine Depotpille, die ihren Wirkstoff nach und nach ins System abgibt. Manchmal ändert der Klient sein Denken, Fühlen und Verhalten und weiß gar nicht, warum er sich verändert hat. Er findet dann Erklärungen, die mit der Beratung nichts zu tun haben. Das schult die Bescheidenheit des Beraters.

© Dr. E. Höfner, München

Fußnoten
[1] Selbstverständlich auch für die Kommunikatorinnen. Man verzeihe mir, wenn ich nur dieses eine Mal anmerke und nicht jedesmal auf´s Neue wiederhole, dass ich sowohl bei den Klienten als auch bei den Beratern/Therapeuten stets beide Geschlechter meine, aber sowohl aus stilistischen Gründen als auch aus Trägheit nicht bereit bin, jeweils ein /in anzufügen

[2] in den Büchern „Das wäre doch gelacht!“ (rororo) und „Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!“ (Carl-Auer-Verlag) werden die Wachstumsbremsen ausführlich erläutert.

 

[3] Bei therapiefernen Beratungen (Coaching, Mediation u.a.) spricht man in der Regel nicht von Symptomen, sondern von unangenehmen Störungen und/oder unangemessenen Verhaltensweisen. Sie zeigen sich in vielfältigem Gewand, zum Beispiel als starr verteidigte fixe Ideen, als heftig ausgetragene, unversöhnliche Konflikte mit anderen, als Arbeitswut, Entscheidungsunfähigkeit oder auch als Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Burn-out.

 

[4] Eine ausführliche Darstellung verschiedener provokativer Werkzeuge sowie zahlreiche Fallbeispiele und wörtliche Transskripte finden Sie in meinem Buch „Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind“.

 

[5] Im Fachjargon nennt man das den „sekundären Krankheitsgewinn“.

 

[6] Die Möglichkeiten unserer Sprache führen notgedrungen in die Irre. Mit Begriffen wie “Überzeugung”, “Wissen” usw. meine ich in diesem Zusammenhang keine rationalen, sondern emotionale Vorgänge.