Farrellys Reading Experimente

Prof. Dr. Ernst R. Petzold
Auszug aus dem Buch “Begleitet sterben- Leben im Übergang“, Kapitel 9: Leben und Sterben, Begleiter und Begleitung: Kirche und Religion, Rituale und unsichtbare Bindungen, Hrsg. Klaus Strasser, Klaus Körber und Ernst Richard Petzold, Gütersloher Verlagshaus 2013, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Unsichtbare Bindungen können in unseren Träumen sichtbar werden. 
„Schlaf und Traum“ erklärt Gotthilf Heinrich von Schubert (1780-1860), dieser Vorgänger Freuds  und Entdecker des Unbewußten „zu Medien der Gottesbeziehung und Wege zur Menschheitsursprung“, die „eingesperrte Psyche“ sei ein  „versteckter Poet“  (G.H. Schubert zitiert von D. v. Engelhardt, 2011).

 Unsichtbare Bindungen erfahren wir auch durch Träume. Träume erzählen uns unsere Geschichte, beschreiben Episoden, Situationen und Beziehungen, aktuelle und frühere. Sie erzählen von Menschen, die uns nahe sind oder ferner stehen. Tief verborgene Affekte und Emotionen öffnen den Blick auf  die unsichtbaren Bindungen. Bekannte und unbekannte Menschen nähern sich uns im Traum und gehen wieder fort, aber jedes Mal, wenn sie sich genähert haben, erwache ich mit einem wunderbaren Glücksgefühl.

Viele Menschen beachten ihre Träume nicht. Für Freud aber waren die Träume der Königsweg zum Unbewussten. Sie halfen ihm und seinen Patienten, das wieder zu entdecken, was sie verdrängt hatten z.B. Geschichten aus der Kindheit, oder aktuelle, vielleicht auch beschämende Ereignisse des realen Lebens. Von daher die These: Träume können uns helfen, Fragen auch am Lebensende zu klären.  Oft versteckt sich im Traum eine Geschichte, ein Konflikt oder ein Problem. Oft ist damit eine überraschende Lösung verknüpft. Sie zu finden können wir lernen. Die Entzifferung von Verschiebungen wie von Verdichtungen, den bekanntesten Traumphänomenen gehört zu der Arbeit, die wir Traumarbeit nennen. Jüngere Traumforscher wie Allan Hobson von der Harvard Universität rücken Träume wieder in der Fokus der Forschung. Sie betonen den Wert, den Träume haben, um unseren emotionalen Kompass wieder einzuordnen oder  unser psychisches Gleichgewicht einzupendeln.  Träume erzählen Situationen, aktuelle, frühere. Sie erzählen von Personen und Beziehungen, von Objekten, und Subjekten, von Affekten, tief im Gemüt oder in der Erinnerung verborgen. (Hürter T. 2011) Oft versteckt sich im Traum das Ich als „erzählende Subjekt“ hinter einem anderen. Je deutlicher aber der andere zu erkennen ist, umso wahrscheinlicher ist er wirklich der andere und nicht das eigene verkappte Ich.

Vor etlichen Jahren schenkte mir eine Mitarbeiterin ein Buch: „Provocativ Therapy“,  von Frank Farrelly, ein Buch, das mich faszinierte. Sehr ernst und doch auch sehr humorvoll. Bevor wir es übersetzten, wollte ich den Autor kennen lernen und flog mit der Kollegin nach Madison/ Wisconsin in die Vereinigten Staaten. Es interessierte mich, wie er psychotherapeutisch mit seinen Klienten arbeitete? Er war Sozialarbeiter und kein Arzt, weshalb er von Klienten sprach und nicht von Patienten. Er hatte einen warmen amerikanisch- irischen Humor und eine so liebevolle Art mit den oft sehr verstörten Klienten umzugehen, dass ich mich selbst gut auf  ihn einlassen konnte. Der provokative Therapieansatz Farrelly’s war ungewöhnlich und hart- nicht gegen die Patienten, aber gegen ihre unfruchtbaren Bindungen beispielsweise an eine Sucht oder eine Depression,  die er mit grimmigem Humor aushebelte. Sein humorvoller und liebevoller Umgang mit diesen Patienten beeindruckte mich tief. Ich übersetzte sein Buch mit Hilfe der Kollegin und etlicher Studenten.

Ein Motiv unserer Übersetzungsarbeit war dies: Wir wollten eine Grundlage haben, wenn diese Therapie in Deutschland bekannt würde, was wir vermuteten. Man sollte etwas in der Hand haben, was als Orientierungshilfe, wie ein  Kompass helfen konnte, den richtigen Weg zu finden. Mein achtzigjähriger Vater, der die Übersetzung noch freundlich und  kritisch begleitet hatte, warnte mich. Er sagte: Die Mentalität der Deutschen sei doch ganz anders als die der Amerikaner. So leicht können wir es uns nicht machen. Bald nach dem Erscheinen des Buches starb er.  Um jetzt aber noch einen Schritt weiter zu gehen, –

Irgendwann erzählte Farrelly von Experimenten, die er ‚Readings’ nannte, ‚Lesungen’ sind nur eine ungenaue Übersetzung dessen, was gemeint war. Er sagte, er könne sich wie ein Medium auf einen Kontakt mit Verstorbenen einstellen. Das machte mich neugierig. Ich wollte wissen, wie und woran mein Vater so plötzlich gestorben war? Er war zuhause im eigenen Bett gestorben, war am Abend zuvor noch mit Freunden zusammen gewesen, hatte später noch mit der Mutter telefoniert, die zur Kur an einem anderen Ort war. Sie besprachen ihre bevorstehende Geburtstagsfeier. Am nächsten Morgen fand ihn mein Neffe tot in seinem Bett. Die Zeitung, in der er noch gelesen hatte, lag neben dem Bett.

Ich bat Farrelly um ein „Reading“, ich wollte wissen, ob er mit meinem Vater in der „anderen Welt“ Kontakt aufnehmen konnte. Wir saßen bei einem Workshop mit anderen Kursteilnehmern nebeneinander. Die Szene wurde videographiert. Ich wollte soviel wie möglich dokumentieren. Farrelly stellte sich auf „drüben“ ein, während ich wie beim Autogenen Training gleichzeitig konzentriert und entspannt neben ihm saß, so dass er mich berühren konnte, wie er das auch bei seinen Therapiesitzungen zu tun pflegte.  Dann lief das Reading. Farrelly sah etwas wie einen Film und teilte wie ein Reporter mit, was er sah und hörte: „Da kommt ein älterer Mann auf mich zu. Er trägt einen Hut. Er grüßt mich freundlich. Er trägt über den Schuhen irgendetwas wie gewickelt – Was ist das?“

Das konnte ich (ERP) später identifizieren: Der Vater trug im Winter gerne Gamaschen,  ein Kleidungsstück, das man noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts über den Schuhen trug, das Farrelly aber  nicht bekannt war.

Der Mann sagte: „Ich war auch in Deinem Land. Damals. Ich hatte viele Betriebe besucht. Man hatte mich gefragt, ob ich nicht dort bleiben wollte. Vieles war wie bei uns zuhause…“

In der Tat: Mein Vater war noch vor dem 2. Weltkrieg  in den Vereinigten Staaten gewesen. Seine Berichte und Filme aus der damaligen Zeit haben uns später immer wieder fasziniert.

Ich wollte nun aber endlich wissen, woran mein Vater gestorben war. Farrelly stellte dem Mann diese Frage. Der griff sich an den Kopf als ob da ein plötzlicher heftiger Schmerz wäre. Dann verschwand das Bild.

Im Nachgespräch und  in den Videoaufzeichnungen konnte ich mindestens zehn detail getreue Zeichen identifizieren, die zu meinem Vater gehörten und über die ich niemals mit irgendjemand, also auch nicht mit Farrelly gesprochen hatte.

Mir schien die gedankliche Möglichkeit des Ausschlusses  eines Jenseits aus unserer realen Lebenswelt geringer zu werden, die Wahrscheinlichkeit eines Lebens nach dem Tod größer. Ein Jahr später wiederholten wir das Experiment mit meiner ältern Schwester. Ein Experiment, bei dem meine Erinnerungen an unsere Kindheit, an das Haus in Berlin, an die Wohnungseinrichtung bis hin zu den Sesseln, ihren Lehnen und Mustern bestätigt wurden. Später fragte ich Farrelly nach einer Anorexie Patientin, die wir trotz intensivsten Einsatzes und jahrelanger Intensivmedizin und Psychotherapie verloren hatten. Er sah sie „drüben“: Ein junges frisches Mädchen, dem es offensichtlich gut ging. Woher hatte Farrelly sein Wissen? War es eine besondere Begabung? Mediale Fähigkeiten werden ja auch anderen Menschen nachgesagt.

Ich begann von einer Konferenz mit Verstorbenen zu träumen, um zu erfahren, wie es ihnen im Jenseits ging – ein uralter Traum, den keiner großartiger beschrieben hat als Dante  in seiner göttlichen  Komödie. Das Jenseits aber in unsere heutige Sprache zu übersetzen, gelang kaum jemand besser als dem Stuttgarter Pfarrer und Publizisten Jörg Zink, der einer größeren Öffentlichkeit durch das „Wort zum Sonntag“ bekannt geworden ist.  Zu erinnern sind die Bücher des fast Neunzigjährigen: „Auferstehung“ bei Herder, 2005. Das Reading Frank Farrellys mit einem Mann, den ich gut für meinen verstorbenen Vater halten konnte, war für mich wie eine Tür, durch die hinüber zu sehen ins Jenseits, Angst vor dem Tode nahm, mehr noch, es mehrte die Hoffnung auf das, was wir mit dem Wort Auferstehung verbinden.

Ein anderer Erfolgsautor unserer Zeit, der Benediktinermönch Anselm Grün schlägt einen anderen Weg ein. In dem ‚Buch der Antworten’ heißt es: „Ewigkeit ist eine Qualität der Zeit….Ewiges Leben ist nicht in erster Linie das Leben nach dem Tod, sondern es ist eine eigene Qualität von Leben. … Ewiges Leben ist ein Leben, das in der Zeit ist, aber doch über der Zeit steht, dass nicht vergänglich und brüchig ist, sonder beständig und dauerhaft.  In dem Augenblick, in dem wir ganz im Schauen sind, in dem Zeit und Ewigkeit zusammenfallen, haben wir eine Ahnung von etwas dauerhaftem, Beständigen, Ewigen, das nicht wieder zerfällt.“ ( A . Grün zitiert von Lichtenauer A. , Herder S 236, 2007)

Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ist eng verbunden mit der anderen Frage, die ein Schriftgelehrter im Lukas Evangelium Jesus stellt: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Die überraschende Antwort ist eine Gegenfrage: „Was steht im Gesetz? Was liest du?“ Der Schriftgelehrte zitiert aus dem Alten Testament: „Du sollst Gott, deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wer aber der Nächste ist, wird mit dem Gleichnis von dem barmherzigen Samariter geklärt. (Luk. 10 V. 25 ff)  Jesus verweist mit diesem Gleichnis auf ein  Tun im Diesseits hin, und nicht auf ein Jenseits, das im jüdischen Denken der damaligen Zeit nur bei einer bestimmten Gruppe, nämlich den Pharisäern, eine besondere Rolle spielte (Apg. 23   V.6 ff).